Finisher wider Willen

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„Wanderer, kommst Du nach Edinburgh, verkündige dorten, Du habest uns laufen sehen, wie der Veranstalter es befahl.“ Ungefähr so ist es mir – frei nach  Schiller – am vergangenen Wochenende beim Edinburgh-Marathon ergangen – 26,2 Meilen, die ich eigentlich nie hatte laufen wollen. Und das kam so: Nach der Anmeldung vergangenen Herbst kam ein viel zu langer Winter mit beruflichen und privaten Turbulenzen, garniert mit einer Prise Verletzungspech. Mit anderen Worten: Ich hatte nicht trainiert – jedenfalls nicht auf einen Marathon. Schon vor Wochen wollte ich mich deshalb auf einen Halbmarathon ummelden, das ging aber nicht, weil der Veranstalter meinte: „Wenn das jeder machen würde…“…Also gut, dachte ich, pfeif auf den Faschingsorden und das Finisher-Klimbim, dann höre ich eben einfach nach der Hälfte auf. Gedacht, getan. Nach einer knappen Woche Urlaub mit meinem Sohn in den schottischen Highlands und Edinburgh war der Lauf ohnehin gedanklich irgendwie zur Nebensache geworden. „Ja, ach, einen Halbmarathon krieg ich schon irgendwie hin.“

Und dann war er plötzlich da, der Sonntagmorgen, 28 . Mai in Edinburgh. Also raus aus den Federn, Toastbrot mit Honig und einen Pott Nescafe eingeworfen, Schuhe an, Nummer ans Shirt heften und vorbei am Sitz des schottischen Regierungs- und Parlamentssitz zum Start in die Regent Road. Das Wetter war gut, wolkig, sonnig, warm, windig. Keinerlei Wartezeiten an den roten Lastwagen bei den Toiletten und der Taschenabgabe: „You’ll find the truuucks in the finisherrrr arrrrrrea“, rrrrroollte mir ein gut gelaunter Schotte entegen. „Alles klar, bis dann!“ Stimmung am Start entspannt. Jetzt ein schöner Trainingslauf über 21 Kilometer. Ich hatte mir nicht mal den Streckenplan richtig angeschaut….egal….passt schon. Tralala…wie schön kann das Leben sein.

Dazu muss man wissen, dass der „Edinburgh“-Marathon eigentlich eine Mogelpackung ist, und mit Edinburgh ungefähr soviel zu tun, wie der Flughafen Frankfurt-Hahn mit Frankfurt. Der Lauf startet zwar am Stadtrand, aber die Stadt mit ihren mittelalterlichen Häusern und Gassen lässt man nach 10 Minuten hinter sich. Danach verläuft die Strecke entlang der Nordseeküste. Zieleinlauf  ist in einem Städtchen mit dem Namen Musselburgh, das an der Mündung des Flusses Esk in die Nordsee liegt. Musselburgh passierte ich schon nach rund 45 Minuten und wunderte mich, ah…die Strecke muss wohl irgendwie hin und zurück gehen….aber von einem Ziel oder oder Trucks war dort keine Spur zu sehen. Komisch dachte ich, dann wird das wohl woanders sein, egal…passt schon…tralala.

Nach rund zwei Stunden hatte ich knapp 20 Kilometer hinter mir und die Strecke bog nach links direkt zum Strand ab. Ich war total zufrieden, im Einklang mit mir und dem Tag…jetzt noch die letzten paar hundert Meter anziehen, mit den Halbmarathonis durchs Ziel…sich unbeachtet verpissen und vielleicht ein schönes Bier am Strand trinken….die Sonne scheint ja gerade so schön. Als ich  um die Ecke gebogen war, zeigte meine Uhr zwar 21,2 Kilometer…aber vor mir lag nur die Dorfstrasse eines verschlafenen schottischen Küstenorts. Das einzige wahrnehmbare Geräusch war der Wind und das monotone klapp, klatsch, klapp, klatsch, klatsch von hunderten Turnschuhsohlen auf dem Asphalt. Kein Ziel, keine Trucks, kein Bier, kein Mensch…

….bis auf einen einzigen alten Schotten, der sich auf einem Campinghocker sitzend, vermutlich seinen Teil dachte, über diesen Bandwurm aus Menschen, die mit allerlei Textil, Brillen, Gürteln, Geltuben, Rucksäckchen und Fläschchen behängt, die sonntägliche Ruhe störten. Manche Läufer staffieren sich auch aus, als müssten sie durch die Kampfzone in der Ostukraine – mindestens.

Hmmm….dachte ich, vielleicht ein Irrtum, irgend eine Meilen/Kiometer-Umrechnungsproblematik meiner Uhr…oder vielleicht haben die Schotten einfach die Strecke falsch vermessen. Na gut, hilft ja nichts, einfach mal weiterlaufen. Nach einem weiteren Kilometer kam endlich ein Streckenposten in Sicht: „Excuse me, Sir, where is the Finish of the Halfmarathon?“ Als er die Schultern hochzog und mir erklärte, dass er das nicht wisse, habe ich wahrscheinlich noch dümmer aus der Wäsche geschaut als er.

Na gut. Geduld! Dann frage ich einfach nach dem Ziel für den Marathon. „No idea, Sir, sorrrry“… Gibt’s das? Ist das Absicht? Will mich hier gar ein Schotte zum Narren halten? Letzter Versuch: „Wohin fahren denn die Lastwagen mit den Taschen? In diese oder in diese Richtung?“ Ich stand mit ausgestreckten Armen vor ihm, wie damals, als ich bei der Schultheateraufführung einen Baum spielen durfte. “I don’t know“…antwortete er mir, mit einem Ausdruck wachsender Verzweiflung in den Augen. Mit dem Menschen kam ich nicht weiter. Ich stand hier offensichtlich mit dem Einzigen, der noch weniger Ahnung von der Veranstaltung hatte als ich. Ok…ruhig Blut, allerletzte Frage („One final question, Sir?“): Wo kommt der Wendepunkt? In diese oder in diese Richtung? Denn wenn das Ziel in Musselburgh sein sollte, das definitiv bereits hinter mir lag, musste der Wendepunkt irgendwo vor mir kommen. Da hellte sich sein Gesicht auf und er zeigte in Laufrichtung. „That dirrrection, not farrrr, maybe 1 mile.“. Daumen hoch. „Na also“, dachte ich, „geht doch“, …Wendepunkt…Ziel…Getränke…Busse…macht zwar entfernungsmäßig keinen Sinn, aber der Schotte wird schon wissen, wo’s langgeht. Ein Irrtum.

Was sich in den folgenden drei Stunden zutrug, ist eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen, ungläubigem Verfluchen der eigenen Planlosigkeit, der Erkenntnis, dass es aus dieser Nummer kein Entrinnen gibt, schlimmen Bein- und  Wadenkrämpfen, Gehstrecken, Versuchen den Lauf doch noch zu genießen und der über allem schwebenden Frage: Wo in aller Welt ist dieses Scheißziel? Denn natürlich kam nach einer Meile kein Wendepunkt, auch nicht nach zwei, dreien oder vier. Statt dessen führte die Strecke immer tiefer in die wirklich schöne schottische Natur hinaus, irgendwann durch einen Park, vorbei an einem Schloss, wieder entlang dem Meer, so ganz genau weiss ich es nicht mehr. Ich glaube bei Kilometer 34 oder 35 kam der Wendepunkt und mit ihm die Frage an mich selbst: „Was in aller Welt machst Du hier eigentlich? Jeder anständige Schotte sitzt Sonntags ab 14 Uhr im Pub, lässt sich volllaufen, singt unflätige Lieder und genießt das Leben. Und was machst Du?“

Dann tauchten Sätze aus dem Buch „Running Buddha“ von Salyong Mipham in meinem Kopf auf, das ich unlängst gelesen hatte. Kapitel zwanzigwasweissich…Vom Umgang mit Schmerzen: „Haben wir eine Beziehung zum Schmerz und verstehen wir ihn, macht uns das furchtloser und glücklicher“. Ob dieser tibetisch-indische Klugscheisser einen Hauch von Ahnung hat, wie sich meine Waden anfühlen? Anscheinend ja, denn ein ander Satz in seinem Buch lautet: „Jeder leidet“ (Erkenntnis 2017/2). Genau; sich einfach mal nicht so wichtig nehmen. Und wenn ich während des Laufens so rechts und links geschaut habe, gab es dort Leute, denen dieser Lauf noch viel schwerer gefallen ist als mir, und ich denke, sie haben sich diese Medaille wirklich verdient. Über diesen und anderen Gedanken tauchte nach 42 Kilometern der Zieleinlauf auf…Zuschauer, Zielzone, Medaille. „Leute“, hätte ich am liebsten gesagt, „das ist ein Versehen. Ich wollte nie hierher, ich bin nur hier, weil kein Bus gefahren ist und meine Tasche weg war“. Zudem bin ich eine unterirdische Zeit gelaufen (5h:11min, Platz 4976) und überhaupt, wo bin ich jetzt eigentlich? In Musselburgh? Muss wohl so sein, denn da standen sie plötzlich in einer sauberen lange Reihe…die roten Trucks mit den Taschen…ein strahlender Mann überreichte mir meine: „Good Job!“. Auch dieser Schotte hatte definitiv keinerlei Ahnung…

PS. Ach ja…der Halbmarathon…der hatte schon zwei Stunden früher stattgefunden…stand so im Programm, wenn man es gelesen hätte.

 

One more tune 2017/2: Paolo Conte, Max

Die Arena di Verona gehört wohl zu den schönsten Konzertlocations Europas…oder sind wir mal ganz unbescheiden…weltweit. Das 30 n. Chr. gebaute Amphitheater wurde von den Römern für Gladiatorenkämpfe und Wettkämpfe genutzt und seine Ränge fassen heute noch 22.000 Zuschauer. Berühmt ist die Arena für das seit mehr als 90 Jahren jeden Sommer stattfindende Opernfestival. Ich habe in den Bergen ausserhalb von Verona vor ein paar Jahren einmal den Mann kennengelernt, der die Pferde für die Opern in der Arena trainiert…ein echter italienischer Pferdeflüsterer mit einem Ara-Papagei auf der Schulter, der ihm nicht von der Seite weicht…könnte sein, dass der Papagei Max hieß…

2005 spielte der italienische Liedermacher, Komponist, Rechtsanwalt, Notar, Grafiker, Maler und Reibeisenstimme Paolo Conte dort dieses schöne Konzert. Mit dem Vibraphon und der Klarinette kommen dabei gleich zwei meiner Lieblingsinstrumente hörbar zu ihrem Recht. Setzen wir uns also an einem schönen Sommerabend für ein paar Minuten auf die noch warmen Steinstufen der Arena und lauschen den Klängen…der Rest ist wie ein Kommentar unter dem Clip sagt: „magica atmosfera“.

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