Sittin‘ on the dock of the bay

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Die lange Reise begann mit einem kurzen Lauf. Als ich am 29. Dezember vormittags endlich an der Straßenbahnhaltestelle Richtung Potsdam Hauptbahnhof stand, kramte ich zunehmend hektischer in den Taschen. Wo war mein Handy? Aus bangem Kramen wurde grausame Gewissheit: Ich hatte es zu Hause liegen lassen. Auf dem Handy war die Zugfahrkarte nach Frankfurt. Ohne Frankfurt, kein Flug nach Bangkok. Ohne Bangkok, kein Flug nach Auckland. In zwei Minuten kommt die Strassenbahn. Und ohne Strassenbahn, kein Zug nach Berlin und damit kein Zug nach Frankfurt. „SCHEISSE“, soll man ja eigentlich nicht sagen. Aber da war es mal angezeigt.

Das Gute ist: In solchen Situationen arbeitet der Verstand erstaunlich rational: In 20 Minuten fährt der Zug. Taxi in Potsdam rufen, keine Option. Mein Fahrrad, war eine Woche zuvor geklaut worden. Auto, besitze ich nicht mehr. Also: Handy holen und Dauerlauf. Dann hat das Lauftraining doch endlich mal einen praktischen Nutzen…Die Challenge: Fast 30 Kilo Gepäck. 2 Kilometer. Ergebnis: Zieleinlauf nach 14 Minuten. Zustand: Schweißgebadet und selber schuld. 

Warum habe ich eigentlich soviel Kram dabei? Nun ja, für drei Monate in Neuseeland über Südostasien bis nach Nepal hat man doch einiges mit. Angefangen von Zelt und Schlafsack über Tropenmedizin, Kamera und Objektive bis zu Wanderstiefel, Hemd und Hose und einem Satz Laufklamotten, Reiseführer, Buch, Paar Schuhe, Badelatschen, Sonnenbrille, bisschen Technikkram. Mein ausgearbeiteter Apollo-11-Plan sah ja vor, alles was nicht mehr benötigt wird, nach und nach abzuwerfen, bzw. die Bergausrüstung für Nepal in Bangkok zu deponieren. Immerhin das Buch ist schon weg. Dafür ist eine Tasse hinzugekommen und ein T-Shirt. 

Der Flug nach Neuseeland war – um es kurz zu machen – sehr lang! Nach zwei Übernachtflügen und ein paar surrealen Stunden in einer Starbucksfiliale im nirgendwo der Transitzone des Flughafens von Bangkok standen Helvi und ich tatsächlich pünktlich zu Silvester um kurz nach Mitternacht mit Tausenden Neuseeländern im Hafen von Auckland und wünschten uns ein gutes Neues Jahr – 12 Stunden bevor sich Deutschland dann in die Feinstaubwolke ballerte.

Die Neuseeländer sind beim Thema Silvester um einiges bescheidener – oder besser gesagt entspannter. Private Sprengmeister und Alkoholexzesse auf öffentlichen Plätzen gibt es hier nicht. Um Mitternacht brennt die Stadt an der Spitze des Fernsehturms ein recht überschaubares („mickerig“ wollte ich vermeiden) Feuerwerk ab. Das war’s. Trotzdem finden es alle toll. 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1….Happy New Year…und weiter geht’s. Den traditionellen Neujahrslauf mit Andreas musste ich dieses Jahr „schweren Herzens“ durch eine Portion hervorragendes Eis an der Waterfront in Auckland ersetzen, denn zum Laufen war ich erstens zu müde, und ausserdem war es Neujahr viel zu heiß. 😉

Die Laufschuhe kamen erst eine Woche später zum Einsatz. Fünf Kilometer am 90-Miles-Beach entlang. Wir hatten die ersten paar Tage bei einem irgendwie zu Geld gekommenen Hippi verbracht, der sich in Tutukaka (der Ort heisst wirklich so) einen halben Hügel gekauft und darauf ein paar Hütten gebaut hat, die er hauptsächlich an Taucher vermietet. Ansonsten betreibt er eine mobile Rollerdisko (Inliner). Warum auch nicht? Nicht ganz überzeugt hat mich allerdings sein Konzept der „Sustainable Toilets“, das im Kern aus einem Loch in der Erde und einer Schippe besteht. Aber der Ausblick von seinem Hügel nach drei Seiten aufs Meer war grandios. Jedenfalls fragte ich ihn, ob es sich lohnt, an den 90-Miles-Beach zu fahren. Seine vielsagende Antwort war: „It’s 90 miles beach, man!“.  Und so fuhren wir also hin, inklusive eines Abstechers an Nordspitze Neuseelands, wo die Seelen der Maoris ins Meer abtauchen, bevor sie irgendwo weiter draußen Richtung Südsee wieder auftauchen….so jedenfalls erzählt es die Mythologie der Ozeanier.

Man ist in Neuseeland soweit weg von allem, dass man sich erst nach zwei, drei Wochen bewusst wird, wieviel überflüssige Gedanken wir Deutschen uns um jeden Mist machen. Irgendwo auf der Südinsel haben wir zwei Tramper eingesammelt, einen jungen Mann und eine junge Frau, und 50 Kilometer in die nächste Stadt mitgenommen. Er war Engländer aus Liverpool, der im wunderschönen Abel Tasman National Park als Kajak-Tourenführer arbeitet und in der nächsten Saison nach Queenstown weiterziehen will, die Hauptstadt der Adventure-Touristen für Bungee-Jumping, Fallschirmspringen,  Canyonabseilen, Jetbootfahren und andere Nahtod-Erfahrungen. Ich fragte ihn, was sie denn bei mit ihren Kajaktouren machen, wenn es regnent. Der Deutsche denkt natürlich wieder an Geschäftsmodelle, Verdienstausfall, reicht das denn zum Leben? Seine Antwort war: „Wenn’s regnet werden wir nass.“ (Erkenntnis 2019/1)

Ich habe die folgenden Tage länger über die Worte des Philosophen aus Liverpool nachgedacht. Wann immer ich mal Spiegel-Online aufrufe, lese ich von den multiplen Katastrophen, die über die dauerbedrohte Nation hereinzubrechen drohen. Oh Gott, der ungeordnete Brexit, oh Gott der Schnee, oh Gott der Feinstaub, oh Gott die AfD, oh Gott der Atomkrieg. Liebe Leute, ein paar Tausend Kilometer weiter schert das keine Sau – oder besser gesagt – kein Schaf. Und es scheint den Menschen gut zu tun. Denn in Neuseeland sind die Menschen unglaublich freundlich und irgendwie entspannt unterwegs. Es gibt hier bestimmt auch jede Menge Herausforderungen. Arme, Reiche, Steuern. Aber die Menschen gehen irgendwie gelassener damit um. Zum Beispiel ist die Sonneneinstrahlung in Neuseeland echt hart. Aber das ist kein Grund zu Hause zu bleiben. Am Strand zieht man eben ein langärmeliges T-Shirt an und benutzt Sonnencreme. Und wenn ein Sturm Bäume auf die Strasse fegt, diskutiert man nicht lange über den Klimawandel, sondern holt die Motorsäge raus, zieht Gummistiefel an und räumt auf. Und wenn es regnet, dann wird man nass!

Eines allerdings sollte man allerdings trotz aller Lässigkeit in Neuseeland nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn an einer Tankstelle ein Schild steht: „Last Petrol Station for the next 120 Kilometers“, darf man das getrost glauben – auch wenn der Sprit dort fünf Cent teurer ist. Es ist nämlich ein echtes Scheissgefühl, wenn der Tank auf Null ist  (und damit meine ich Null, Reserve ist dann schon vorbei) und die nächste Tankstelle ist noch vierzig Kilometer entfernt. Irgendwo anklopfen ist dann nicht, denn dort wohnt niemand, und anrufen geht auch nicht, denn Netzabdeckung gibt es in solchen Gegenden keine. Schafe und Rinder schließen in aller Regel nicht mal in Neuseeland Mobilfunkverträge ab. Es war jedenfalls sehr erlösend nach allen erdenklichen Spritsparmätzchen und Stoßgebeten mit dem wohl allerletzten Tropfen an die Zapfsäule zu rollen. Der Tankwart wollte nicht mal das Trinkgeld annehmen, das man aus Dankbarkeit gerne in irgendeinen Opferstock gesteckt hätte.

Insgesamt waren wir in knapp fünf Wochen über 4.000 Kilometer auf neuseeländischen Strassen unterwegs. Von Norden nach Süden von Osten nach Westen, von Westen nach Osten. Hügel rauf, Kurve links, schärfere Kurve rechts, noch schärfere Kurve links, Hügel runter. Und dann das Ganze wieder von vorne. Wer glaubt, Neuseeland bestehe hauptsächlich aus grünen, flachen Wiesen, der täuscht sich. Ein Großteil der Nordinsel ist hügeliges Waldgebiet mit riesigen Farnbäumen und jeder Menge Vulkane. Die weiten, langen, geraden Straßen gibt es am ehesten auf der Südinsel, aber auch dort nur östlich der Alpen.

Ein Erdbeben haben wir nicht erlebt. Aber immerhin bin ich jetzt mal über ein Stück Land gelaufen, dass aufgrund eines Erdbebens erst seit den 1930er Jahren existiert. Dazu fuhren wir nach Napier, einem Städtchen an der Ostküste der Nordinsel. Dort bebt die Erde immer wieder mal, denn Neuseeland liegt an einem Ende des „Pazifischen Feuerrings“, der sich über eine Länge von 40.000 Kilometern wie ein auf dem Kopf stehendes U von Südamerika über Kalifornien bis nach Japan und Südostasien bis runter nach Neuseeland zieht. Napier liegt auf einer der Linien, an der die Australische und Pazifische Platte sich aneinander reiben. Und das wurde der Stadt am Vormittag des 3. Februar 1931 zum Verhängnis. Ohne jede Ankündigung entlud sich die Spannung in einem gewaltigen Erdbeben. 

Innerhalb von 30 Sekunden hob sich die Stadt Napier um bis zu 2,7 Meter in die Höhe, einige Kilometer weiter, in der bei Weinliebhabern als Hawke’s Bay bekannten Gegend, sackte der Erdboden ab. Innerhalb von zweieinhalb Minuten legten weitere Erdstöße die Stadt in Schutt und Asche. Ein Teil des Hügels, auf dem die Stadt am Meer gebaut war, rutschte ab. Augenzeugen beschrieben es wie Geräusch von „kochendem Wasser“. Rund 260 Tote und 3.000 Verletzte forderte das Beben. Dass nicht viel mehr Menschen an den Folgen starben, verdankt die Stadt einem Schiff der Royal Navy, das zu der Zeit zufällig im Hafen lag. Per Funk sendete die Marine die Nachricht von der Katastrophe ins gesamte Land und binnen Stunden machten sich Schiffe mit Hilfe auf den Weg.

Quelle: Christchurch Library

Die Folgen des Bebens waren verheerend: Praktisch alle Häuser, Bauwerke und Infrastruktur waren zerstört. In den Wochen darauf kollabierten an der Londoner Börse die Aktienkurse vor allem von Versicherungen. Neuseeland, so war die Befürchtung, stehe vor dem Staatsbankrott.

Beides ist nicht passiert. Stattdessen beschlossen die Einwohner, die Stadt wieder aufzubauen – aber nicht wie zuvor, sondern gänzlich neu, im Stil der modernen Architektur der Zeit – Art déco. Ein Designstil, der zwischen 1920 und 1940 den Jugendstil ablöste und Architektur, Industriedesign, Möbelbau und bildende Kunst beeinflusste. Aus dieser Zeit stammt unter anderem das weltbekannte Chrysler-Building in New York. In Napier entstand Mitte der 1930er Jahre die bis heute weltweit größte erhaltene Ansammlung von Gebäuden im Art déco Stil. „The city is snapshot in history“, wie es in einem der Texte über Napier heißt. 

Das Erdbeben hatte aber noch eine andere Auswirkung: Eine rund 3.000 Hektar große Lagune neben der Stadt wurde durch die Anhebung trockengelegt. Und so entstand um Napier ein riesige, topfebene Fläche, durch die heute eine lange Strasse zur Stadt hinführt. Mittendrin wurde ein Flughafen gebaut. Zum Laufen nicht sonderlich attraktiv, aber wo hat man schon mal die Gelegenheit auf echtem Neuland zu wandeln? 

Ma könnte jetzt natürlich noch viel schreiben, aber es ist ja ein Irrtum, dass Reisen bedeutet „nichts“ zu tun. Ich halte es deshalb mal mit dem rosaroten Panther: „Heute ist nicht alle Tage. Ich komm’ wieder, keine Frage“. 

Tipp für Läufer: Neuseeland ist ein Paradies für Trail-Läufer, vorausgesetzt man hat die die richtigen Schuhe dabei. Oder einfach barfuss am Strand, wer’s mag

OneMoreTune 2019/1: Sittin‘ on the dock of the bay
Nachdem das Autoradio aus den 1980er Jahren unter mysteriösen Umständen die Batterie leergesaugt hatte, und ein in die Pampa gerufener Mechaniker sich in breitestem Neuseeländisch zu der ausführlichen Diagnose hinreissen lies: „Baaadddery!“ , verschwand das Ding für den Rest der Fahrt im Handschuhfach. Wenn man dann ein paar Wochen ohne Musik durch die Gegend gondelt, kommt einem aus der Not heraus doch das eine oder andere Liedgut über die Lippen. Immer gern genommen: „Sittin’ on the dock of the bay“. Irgendwo sitzt man ja am Ende des Tages doch wieder am Meer und sinniert in Richtung Horizont. Aber von wem ist der verdammte Ohrwurm nochmal? Und wie war das genau mit dem „wasting Time“?

Nach zwei Tagen intensiver und erfolgloser Diskussion half uns ein Blick in Segen und Geisel der Moderne: Das Mobiltelefon. Otis Redding! Klar. Er hat das Lied während eines Urlaubs in der San Francisco Bay geschrieben. Was vielleicht weniger bekannt ist. Den unglaublichen Erfolg des Songs hat er nicht mehr erlebt. Der gute Otis starb nämlich im Dezember 1967 im Alter von nur 26 Jahren bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg von einer Fernsehaufzeichnung zu einem Live-Konzert. Drei Tage zuvor hatte er „Sittin’ on the dock of the bay“ aufgenommen. Im Januar 1968 posthum veröffentlicht, wurde der Song zu seinem größten Erfolg. Und weil es auch nach mehr als einem halben Jahrhundert so schön ist, hier die ersten beiden Strophen:

Sittin‘ in the morning sun
I’ll be sittin‘ when the evenin’ comes
Watchin‘ the ships roll in
Then I watch ‚em roll away again

I’m sittin‘ on the dock of the bay
Watchin‘ the tide, roll away
I’m sittin‘ on the dock of the bay
Wastin‘ time… 

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